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Ich bin ein Dorf-Chamäleon

Illustration: Daniela Rudolf-Lübke

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Das Jahr 2020 hat auch gezeigt: Es ist wichtig, dass man sich im eigenen Zuhause wohlfühlen kann, wenn draußen Infektionsgefahr herrscht. In der Corona-Pandemie wurde das Landleben plötzlich attraktiver als beengte Mietshäuser in der Stadt. In unserem Dorf-Schwerpunkt widmen wir uns diesem neuen Sehnsuchtsort – mit all seinen schönen, aber auch anstrengenden Seiten.

Es gibt bestimmte gesellschaftliche Kreise – jung, gebildet, weltoffen – in denen weitgehend unbemerkt eine große Zahl von Menschen unter falschem Etikett lebt. Menschen, die in Großstädten aufgewachsen sind und diese nie wirklich verlassen haben, sind oft blind dafür. Wenn sie genau hinsehen würden, wären sie erstaunt, wie viele ihrer Bekannten oder Kolleg*innen nicht sind, was zu sein sie vorgeben: Unter den lässigen Sneakern kleben Spuren von Kuhfladen, in der politisch korrekten Sprache schwingt ein schwerfällig-ländlicher Unterton mit und hinter den Ace & Tate Brillengläsern liegt ein Blick, in dem sich ferne Wälder, Felder und geschlossene Tankstellen spiegeln. Diese Menschen leben als abgeklärte, szenige Großstädter. Aber sie sind Dörfler. 

Ich bin einer von ihnen und weiß, wie anstrengend es ist, den bräsigen Provinzler hinter dem prätentiöses Werbeagentur-Deutsch redenden Kosmopoliten zu verstecken. Ich lebe in einem sozialen Umfeld, in dem die unausgesprochene Regel gilt, die Konzepte „Land“, „Dorf“ oder „Dialekt“ weitgehend zu ignorieren, oder wenn, dann als eine irrelevante Kuriosität zu behandeln. Und diese Regel halten manchmal besonders die ein, die auf dem Land aufgewachsen sind. So eine Art Überkompensation.

You can get the boy out of the ländliches Umfeld but you can’t get the ländliches Umfeld out of the boy

Wirklich seltsam wird das aber, wenn die auch dann durchgezogen wird, wenn es gar nicht nötig wäre. Wenn man mal wieder auf dem Land ist nämlich, in seiner Ursprungssphäre.

Ich habe schon mit schwerem Herzen Menschen beobachtet, die sich auch dort so in der neuen Rolle gefallen, dass sie sie unter keinen Umständen mehr ablegen wollen. Auch nicht, wenn sie im Weihnachtsurlaub im Heimatdorf in der Dorfkneipe mit alten Grundschulfreunden plaudern. Sie tragen ihre Informiertheit, ihre neuesten „Projekte“ und ihr Hochdeutsch wie ein aufdringliches Parfüm mit sich herum und merken nicht, dass niemand ihnen ihr neu gefundenes „wahres Ich“ abkauft. Um ehrlich zu sein: Ich war so selbst so jemand.

Aber, wie eine alte Bauernweisheit sagt: You can get the boy out of the ländliches Umfeld but you can’t get the ländliches Umfeld out of the boy. Ich glaube, dass es sich einfacher lebt, wenn man seine Stadt- und Land-Identitäten friedlich koexistieren lässt.

Ich habe irgendwann gemerkt, dass es viel entspannter ist, sich manchmal seiner jeweiligen Umgebung subtil anzupassen, anstatt sie auf Teufel komm raus zu kontrastieren: Ich bin jetzt ein Dorf-Chamäleon. Ich rede im Heimaturlaub wieder ein bisschen behäbiger, ich grüße Nachbarn, ich freue mich über den tranigen Kleinstadt-Klatsch meiner Verwandten. Ich gehe besoffen in den Wald. Solche Sachen.

Das hat nicht nur den Vorteil, dass ich die innere Dissonanz zwischen Stadt und Land etwas abmildern kann, sondern es schult mich auch darin, zwischen verschiedenen Normen und Umgangsformen zu wechseln. Was nicht heißt, dass man seine Überzeugungen verraten muss. Im Gegenteil: Wenn man sie nicht ostentativ vor sich her trägt, kann man oft viel mehr erreichen. Bei mir zu Hause auf dem Land gendert man zum Beispiel nicht, sondern man ist vielleicht gerade mal soweit, homosexuelle Menschen ab und zu nicht mehr „Schwuggele“ zu nennen. Gut. Dann verzichtet man eben kurz auf die sprachlichen Standards, die in seiner Großstadt-Bubble gelten und setzt ein bisschen niederschwelliger an.  

Scheißt auf das Dorf-Chamäleon und schreit die ignoranten Hinterwäldler zusammen

Dem muss ich aber auch anfügen, dass ich als weißer Hetero-Mann leichter reden habe, als diejenigen, die vom Land eher geflüchtet als weggezogen ist, weil es sie nicht so hat leben lassen, wie sie es wollten.

Deshalb würde ich auch sagen: Wenn es sich richtig anfühlt, scheißt auf das Dorf-Chamäleon und schreit die ignoranten Hinterwäldler nach Strich und Faden zusammen.

Kommt aber auf Dialekt immer besser.

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