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Wie andere Denkweisen im Dorf anecken
Das Jahr 2020 hat auch gezeigt: Es ist wichtig, dass man sich im eigenen Zuhause wohlfühlen kann, wenn draußen Infektionsgefahr herrscht. In der Corona-Pandemie wurde das Landleben plötzlich attraktiver als beengte Mietshäuser in der Stadt. In unserem Dorf-Schwerpunkt widmen wir uns diesem neuen Sehnsuchtsort – mit all seinen schönen, aber auch anstrengenden Seiten.
Vergangenen Sommer feierte eine Freundin ihren Geburtstag. Eine mittelgroße Gartenparty: Lagerfeuer und Luftballons. Eigentlich nicht der Platz für eine Auseinandersetzung. Doch wenn ich auf meinen Heimat-Besuchen eines gelernt hatte, dann dass in genau diesen friedvollen Umgebungen die Gefahr lauert.
Fast 20 Jahre lang wohnte ich in einem 600 Einwohner Dorf. Die Art von Dorf, in dem es keinen einzigen Supermarkt gibt und ein fremdes Auto in der Straße für ordentlich Gesprächsstoff sorgt. Vor drei Jahren habe ich das hinter mir gelassen und bin zum Studieren in die Stadt gezogen. Seitdem komme ich regelmäßig zurück. Ich besuche gerne meine Freund*innen auf dem Land, aber oft fällt mir dann wieder auf, wie unterschiedlich unsere Ansichten sind. Und wie schwer es mir fällt, das zu verbergen. Es mag Heimat-Besuchende geben, die ihre Überzeugungen zu Hause denen ihres Umfeldes anpassen. Für mich ist das vergleichbar mit den Kuhfladen auf der Wiese nebenan: Das stinkt bis zum Himmel. Überzeugungen kann man nicht an- oder ablegen. Für mich funktioniert das nicht. Es fühlt sich falsch an. Zu echten Überzeugungen steht man auch während des Heimatbesuchs – und nimmt dafür die Konsequenzen in Kauf.
„Na, hast du wieder deine Lesben-Hose an”
Auf besagter Gartenparty wurde ich mit den Worten „Na, hast du wieder deine Lesben-Hose an“ begrüßt. Ich hatte mich noch nicht mal richtig hingesetzt, schon eckte ich an. Auf den Kommentar reagierte ich mit Ignoranz. In den vergangenen Jahren hatte ich gelernt: Man darf nicht gleich am Anfang seine volle Energie ausschöpfen. Denn das würde erst der Auftakt sein.
Einige Beispiele: Ich war in den vergangenen Jahren zu Hause auf Partys, auf denen ich gefragt werde, wie ich mit meinem Medienstudiengang denn Geld verdienen wolle, während im Hintergrund Rechtsrock lief und am Stehtisch nebenan mutmaßte jemand darüber, ob Lukas*, ein Bekannter von mir, jetzt schwul sei oder nicht. Diese konservativen Denkmuster bringen mich zur Weißglut. Wenn ich das dann laut äußere, sagen meine Freunde*innen, dass ich meine „Männer-Hass-Keule“ schwinge. Ihr Problem: ich bezeichne mich auch auf dem Dorf als Feministin. Und dort ist Feminismus ungefähr genauso stark verbreitet, wie ein gut funktionierender Busfahrplan.
Aber zurück zur Gartenparty im Sommer. Der Bruder einer Freundin hatte eine neue Freundin, die jetzt akribisch analysiert wurde. Sie war weder anwesend, noch hatte jemand der anwesenden Personen sie bislang kennengelernt. Einzig und allein ihr Social-Media-Auftritt reichte aus, um zu beurteilen, dass sie „komisch“, „unsympathisch“ und „billig“ sei. Ihre Vorliebe für künstliche Fingernägel, aufwändiges Make-up und Schönheits-OPs ließen aus Sicht der anderen Gäste daran keine Zweifel. Für mich fühlte sich das an, als wären sie die Jury einer Castingshow, bei der die Bewerberin noch gar nicht die Chance bekommen hatte vorzusingen.
Ich beschloss, die mir ebenfalls unbekannte Freundin zu verteidigen. Es ging mir nicht darum, Partei zu ergreifen, sondern darum, gegen das Frauenbild meiner Freund*innen zu kämpfen und die Vorurteile, die damit verbunden waren. Warum? Weil es mich nervt, dass es immer noch Menschen gibt, die Frauen aufgrund ihres Äußeren in eine Schublade stecken. Ich nutze jede Gelegenheit, um diese Denkmuster anzugreifen – egal welche Personen um mich herum sind und in welcher Umgebung ich mich befinde. Würde das jemand in der Stadt machen, würde ich auch dagegen sprechen. Warum also nicht auf dem Land, wo es deutlich mehr Gelegenheiten dazu gibt? Nur auf dem Land fühlen sich solche Situationen direkt an wie ein Boxkampf. Mit mehr als eine*r Gegner*in.
„Gebt ihr doch erstmal eine Chance. Vielleicht ist sie ja ganz cool“, wagte ich einen ersten Versuch. „Hast du die billigen Fotos gesehen? Die kann nicht cool sein“, kam zurück. Während ich für die Verteidigung ausholen wollte, stieg eine weitere Freundin ein: „Würdest DU dich etwa auch unters Messer legen?!“. Bam. Diesen Schlag hatte ich nicht kommen sehen. So schnell wurde es persönlich. Es folgte eine lange Diskussion, in der ich immer wieder erklären musste, warum ich dagegen bin, dass man eine Frau als Barbie abstempelt. Und genau das ist der Punkt: Ich MUSSTE mich erklären. Warum werden ich gezwungen, meine Überzeugungen zu verteidigen während die anderen ihre behalten dürfen?
„Änderung durch Anpassung? Das funktioniert nicht”
Natürlich wäre es einfacher gewesen, mich mit einem „Ich finde die gemachten Brüste auch viel zu übertrieben“ mit meinen Freund*innen zu verbünden. Wir hätten noch ein bisschen gelästert und am Ende eine Runde Beer-Pong gespielt. Aber, wenn wir Anecker*innen alle zu Dorf-Chamäleons werden würden, würde sich doch nie etwas ändern. Änderung durch Anpassung? Das funktioniert nicht. Änderung durch anecken, lautet meine Devise. Ich glaube fest daran, dass wir irgendwann offen miteinander reden können und niemanden den/die andere*n verurteilt.
Die „Daheimgebliebenen“ stempeln das gerne als Überheblichkeit ab. Sie glauben, dass wir Anecker*innen uns unsere Denkweisen erst durch das Leben in der Stadt angeeignet haben. Aber das ist falsch. Ich habe schon vor meinem Auszug an dem konservativen Weltbild meiner Heimat gezweifelt. Schon vor Jahren hat es mich wütend gemacht, dass eine Frau wochenlang Dorfgespräch wurde, nur weil ihr neuer Freund eine andere Muttersprache hatte als die restlichen Dorfbewohner*innen. In vielen Situationen hätte ich gerne etwas gesagt. Aber das ist nicht immer so einfach, schließlich will man auch irgendwie dazugehören. Das Leben in der Stadt änderte nicht meine Überzeugungen, es gab mir den Mut, zu meinen Überzeugungen zu stehen. Genau dieses Mutes versuche ich mich jetzt immer wieder zu bedienen, wenn ich aufs Land fahre. Ich will davon etwas abgeben. Weil ich weiß, dass nicht alle die Möglichkeit zu dieser Stadt-Erfahrung haben. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es auf dem Land nicht noch mehr potentielle Anecker*innen gibt.
„Es sind die kleinen Erfolgsmomente, die mir zeigen, dass die Mühe nicht umsonst ist”
Das eigentliche Finale der Gartenparty kam übrigens erst gegen Ende. Ein Bekannter fragte mich, wo ich denn meinen Freund kennengelernt habe, den er an diesem Abend zum ersten Mal sah. „Auf einer Dating-App“, erzählte ich so beiläufig wie möglich. Ich wusste: Jetzt folgt die Debatte, ob das denn wirklich funktionieren kann. Ob man damit nicht das letzte Fünkchen Romantik der Digitalisierung überlässt und vor allem der Vorwurf „Von DIR hätte ich das ja nicht gedacht“. Das alles kam auch genau so. Womit mein Gegenüber nicht rechnete: Ich habe ihn zuerst angeschrieben. Das geht bei der App auch nicht anders. Die Frauen müssen den ersten Schritt machen. Damit knockte ich ihn völlig aus. Weil das für ihn zwei Dinge kombinierte, die in seinem Denken bislang noch keinen Platz gefunden hatten: Online die große Liebe finden und dann muss auch noch die Frau die Initiative ergreifen. „Ahhhja”, murmelte er völlig verdutzt und nahm einen Schluck von seinem Bier. Offenbar hatte ihm die Tatsache, dass es Männer gibt, die in ihren Ansichten nicht ganz so festgefahren sind wie er, die Sprache verschlagen.
Die Dorf-Chamäleons fragen sich vielleicht, woher ich den Mut und die Nerven nehme, immer wieder anzuecken, anstatt still und heimlich mit den Augen zu rollen. Es sind die kleinen Erfolgsmomente, die mir zeigen, dass die Mühe nicht umsonst ist. Als ich ein paar Tage nach der Gartenparty zurück in die Stadt fahre, schreibt mir eine Freundin: „Du glaubst nicht, was passiert ist, Moritz* ist auf Tinder.“
Dass Moritz* sein Datingleben in die Onlinewelt velegte, ließ mein Anecker*innen-Herz höher schlagen. Vielleicht gibt er ja sogar beim nächsten Mal einer App eine Chance, bei der Frauen den ersten Schritt machen müssen. Vielleicht sollte das das Ziel meines nächsten Heimatbesuchs sein.