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Hilfe, ich bin eine Streberin!

Unsere Autorin will in allem die beste sein – wenn das nicht klappt, frustriert sie das.
Illustration: Federico Delfrati

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Ich war nie eine besonders auffällige Schülerin, weder besonders gut, noch besonders schlecht. Solider Durchschnitt mit Ausreißern nach oben und unten. Schon gar nicht war ich eine Streberin, denn das hätte ja bedeutet, dass ich mich ernsthaft einer einzelnen Sache hätte widmen müssen. Es ist nun mal eine unverrückbare Tatsache, dass man etwas investieren muss, wenn man gute Noten bekommen will oder ein Instrument gut spielen möchte: Zeit zum Beispiel. Mein Mangel an Motivation und Fleiß hinderte mich allerdings nie daran, von Höherem zu träumen: Ich wollte schon immer gerne etwas Besonderes sein, aber eben nur, wenn ich möglichst nichts dafür tun musste. 

Leider ist es auch heute noch so, auch wenn ich es ungern zugebe: Ich wär so gerne ein Genie. Bin ich aber nicht. Stattdessen bin ich einfach nur ein Normalo-Mensch mit einem innerlichen Hang zum Größenwahn, der sich in der Realität aber nicht niederschlägt. Die vielleicht unsympathischste Charaktermischung, die es gibt. 

Genau diese Verfassung hat dazu geführt, dass ich sehr viele Dinge im Leben nicht tun kann. Veranstaltungen mit Lehrern besuchen, zum Beispiel. Glücklicherweise bin ich aus dem schulpflichtigen Alter raus und kann mein Leben soweit selbst gestalten. Aber es gibt erstaunlich viele Veranstaltungen für Erwachsene, die ich trotzdem meiden muss: Kochkurse beispielsweise, Sprachkurse, Gruppenreisen mit Reiseleitern, Yogakurse, Fitnessstudios, Diskussionsgruppen oder die Mitgliedschaft in einem Orchester. So gut wie alle sozialen Situationen eben, in denen es eine relativ klare Hierarchie gibt und in denen ein Mensch der Chef ist, der anderen etwas beibringen möchte. 

Es ist grauenhaft, aber der Streber-Hulk lässt sich nicht zähmen

Denn genau diese Gruppensituationen bringen das Schlimmste in mir hervor: Es ist, als säße in mir ein Hulk-artiges Wesen, das sich immer dann Bahn bricht, wenn ich im Frontalunterricht sitze. Dieser Streber-Hulk meldet sich mit gerecktem Zeigefinger. Der Streber-Hulk redet, wenn andere schweigen, denn der Streber-Hulk möchte, dass der Lehrer mich wahrnimmt und lobt. Der Lehrer soll mich mögen. Ich will die Lieblingsschülerin sein. Die beste sowieso. Es ist grauenhaft, aber der Streber-Hulk lässt sich nicht zähmen. 

Es ist ja nicht so, als hätte ich es nicht schon öfter versucht. Immer wieder denke ich: Christina, du bist jetzt ein reifer, ausgewachsener Mensch, es muss dir doch möglich sein, diesen Yogakurs zu besuchen, ohne dich komplett zum Affen zu machen. Und dann melde ich mich an und komme fünf Minuten früher, damit ich vorne einen Platz finde (Natürlich nur außerhalb von Corona-Zeiten). Dann geht der Kurs los und ich versuche meine eingerosteten Gelenke so hinzudrehen, wie die Lehrerin es uns zeigt. Und bin psychisch geradezu zerstört, wenn der mich einfach ignoriert. Noch schlimmer: Wenn er mich VOR DER GANZEN KLASSE berichtigt und mir sagt, dass ich leider Gottes alles falsch mache, aber das sei nicht weiter tragisch, ich müsste nur in den nächsten fünf Jahren täglich üben, dann würde das auch was werden mit mir und dem Hund. 

Ich will aber nicht fünf Jahre lang täglich den Hund üben. Ich will den Hund auf der Stelle perfekt können. Und zwar, weil in mir unerkannt seit meiner Geburt ein Yoga-Genie schlummerte, das ich nur mal kurz rauslassen musste.  

Dasselbe im Französischkurs der Volkshochschule. Es ist mir schon bewusst, dass man eine Fremdsprache nur dann sprechen kann, wenn man die passenden Vokabeln dazu parat hat. Und die muss man sich leider mühsam einbimsen. Mit Karteikarten und dem ganzen Käse. Ich glaube also nicht, dass ich auf der Stelle fließend mit der Lehrerin parlieren kann. Aber verdammt noch mal: In meiner Fantasie war ich wenigstens in der Lage, komplett akzentfrei die drei Vokabeln rauszuhauen, die noch in meinem Stammhirn vorhanden waren. Klappt nur leider nicht. Schönöparlpaslöfranxösongsaksong. Okonträrrrr!  

Bestimmt würde ich auch in der Therapie immer versuchen, die Lieblingspatientin meines Therapeuten zu sein

Ich hasse diesen Streber-Hulk in mir. Er ist mir unwahrscheinlich peinlich und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Geht das jetzt für den Rest meines Lebens so weiter? Werde ich noch im Altersheim bei der Bewegungsgymnastik ganz vorne dabei sein und den Rollator drehen, immer mit einem Auge auf der Krankengymnastin, die mich unbedingt SEHEN soll?

Was kann ich tun, damit dieser ekelerregende Reflex sich legt? Muss ich etwa in Therapie gehen? Aber, oh Gott! Bestimmt würde ich auch in der Therapie immer versuchen, die Lieblingspatientin meines Therapeuten zu sein, weil ich so pflegeleicht bin und interessante Leiden vorzuweisen habe. 

Im Alltag habe ich mich inzwischen damit abgefunden, dass ich leider nicht in der Lage bin, Kurse zu besuchen, um etwas zu lernen. Aber zum Glück für mich ist die digitale Welt geradezu prädestiniert für faule Streber wie mich. Ich muss nicht mehr raus, ich kann einfach zu Hause herumstrebern, ganz ohne Zeug*innen oder einen Abgleich mit der Wirklichkeit.

Vor einiger Zeit habe ich angefangen, Yoga in meinem Schlafzimmer zu machen mit einer Lehrerin auf Youtube. Das Tolle ist: ich fühle mich von ihr GEHÖRT und anerkannt. Denn sie lobt mich immer, egal was ich tue. Und sie sagt mir immer, dass ich es richtig mache. Sie lobt mich so ausdauernd – ich bin fast sicher, dass ich ihre Lieblingsschülerin bin.  Tatsächlich bin ich die allerbeste Yoga-Überin in meinem Kurs, denn ich habe keine Konkurrenz. Wer weiß, vielleicht bin ich wirklich ein Genie? Könnte ja durchaus sein.

Dieser Beitrag ist zum ersten Mal am 9. März 2019 erschienen und wurde am 11. Dezember 2020 noch einmal aktualisiert.

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